Glam Rock

Der Glam Rock in seiner allerersten, klassischen Ausprägung zwischen 1972 und 1974 entstand aus einer Reihe verschiedener musikalischer Trends in Großbritannien. Im Grunde ging es hier um das Aufbegehren gegen die als erdrückend empfundenen Ernsthaftigkeit der Proto-Metal-, Prog- und Hard-Rock-Bands, die all das ausmachten, was man dann später, zu Beginn der 80er Jahre als „Classic Rock“ bezeichnete. Ja, der Proto-Metal ging noch andere Wege und inspirierte auch den Underground, aber erstaunlich viele ehemals deftige Bands wollten an der Oberfläche bleiben und liebäugelten häufig mit dem Pop-Appeal.
Im Glam entdeckte man sozusagen die Vorliebe für den Drei-Akkorde-Rock N Roll der 50er Jahre wieder und verband diese mit einer allgemeinen Androgynität, die durch die Kulturkriege zu dieser Zeit ausgelöst wurde. Die Hauptthemen waren Homosexualität, Abtreibung, Transgender-Rechte, Pornografie und so weiter.
Und da passte der Glam ganz gut ins Bild, weil er der Punk-Bwegung in den frühen 70er Jahren vorausging und natürlich einen bedeutenden Einfluss auf Mode, die grundsätzliche Einstellung und sexuelle Identitäten hatte.

Der typische britische Glam-Rock-Song, der war daher laut, stampfend, einfach und extravagant, mit großen Gitarrenriffs und fetten Refrains, die die Menge zum Mitsingen anregten. Über diese allgemein akzeptierte historische Realität des Glam hinaus – nämlich als Ära, Genre, Szene, oder Bewegung – kann man das ganze auch anders betrachten, nämlich als etwas, das irgendwie schon immer da war und auch nie ganz verschwand. Es gibt selbstverständlich Vorläufer wie die Rolling Stones, Velvet Underground, und vor allem Litte Richard, der mit seinen extravaganten Bühnenauftritten, seinem Kleidungsstil und katzenhaften Gekläffe sowas wie der Schutzpatron des Glam ist. Das ist allerdings nur der musikalische Aspekt. Es kamen auch viele Einflüsse aus noch älteren Quellen, die weit über das 19te Jahrhundert hinaus reichen und das Theater betreffen, das Vaudeville-Theater und so weiter mit seiner Kombination aus Frechheit und Schick, Pose und Haltung.
Die Musik war zu dieser Zeit noch nicht getrennt von Literatur, Theater und Kultur ganz allgemein. In den 60er und 70er Jahren war alles noch ein einziger Schmelztiegel, wo alles passieren konnte. Und klar hatte auch die Pop-Art und Andy Warhol einen großen Effekt auf die Musiker. Science Fiction war zu dieser zeit groß in Mode.
Klar kann man sagen, dass in der populären Musik der Glamour ja ohnehin immer schon da war, als Spektakel, als Bühnenkunst, aber der entscheidende Unterschied ist das Selbstbewusstsein, mit dem die Glam-Musiker Aspekte wie Kostüme, Theatralik und den Einsatz von Requisiten aufgriffen, was dann ja oft eher an eine Parodie des Glamours grenzte als an seine ernstgemeinte Übernahme. Der Glam-Rock machte in gewisser Weise auf sich selbst als Illusion aufmerksam.
Und es gab zu dieser Zeit Künstler, die musikalisch dann doch zu abenteuerlustig waren, um sich auf ein bestimmtes Genre festlegen zu lassen, die sich aber trotzdem am Glam versuchten (Queen, David Bowie, ELO, Cheap Trick). Das alles waren Bands, die eine Glam-Phase hatten, aber natürlich nicht dort verblieben. Gerade zu David Bowie komme ich später noch mal zurück.
In England brodelte es also mal wieder (oder eben immer noch, wenn man so will).
Und natürlich nahm Amerika das zur Kenntnis. Sweet gelang es, in den USA Hits zu landen; die New York Dolls nahmen sich die Bewegung zu Herzen und veränderten die Rockszene der Stadt für den Rest des Jahrzehnts, und Alice Cooper begann, den Stil und die Haltung des Genres in seine eigene, von den Doors inspirierte Mischung aus Gothic und Hard Rock zu integrieren. All dies trug dazu bei, den Glam zu einer äußerst einflussreichen Bewegung zu machen: Frühe Punks und New Waver übernahmen die Anti-Hippie-Haltung und die brutale Einfachheit des Stils, während dann Metal- und Hard-Rock-Bands, die ein jüngeres und vielseitigeres Publikum ansprechen wollten, sich das Genre ebenfalls zu eigen machten. Die populärsten von ihnen – KISS, Van Halen, Aerosmith – die eroberten mit ihrer bluesigeren und härteren Version des Glam die amerikanischen Radiosender; in den achtziger Jahren wurde ihr Erfolg zur Speerspitze der gesamten „Hair Metal“-Bewegung (mit der Glam leider bis heute von vielen verwechselt wird). Und sicher war der Glam eine wichtige Inspirationsquelle für den Hair Metal, die beiden Stile haben allerdings nichts miteinander zu tun, weder zeitlich noch musikalisch.
Man ist sich eigentlich ziemlich einig, dass der Glam Rock im März 1971 begann, als Marc Bolan mit seiner Band T-Rex bei Top of the Pops auftrat. Da trug er ein schwarzes Satinoberteil, hatte Glitzer unter den Augen und spielte den Song „Hot Love“. Der Song wurde die erste Nummer-1-Single der Band im Vereinigten Königreich und hielt sich sechs Wochen in Folge an der Spitze der Charts. Bolans Auftritt führte eine ganze Generation von Jugendlichen in das Konzept der Androgynität ein und machte die Glam-Rock-Mode für eine ahnungslose Welt salonfähig. Inspiriert von T-Rex und dem bahnbrechenden Stil von Marc Bolan, begannen auch andere Künstler, den Glam-Rock-Look zu übernehmen.

Der berühmteste von ihnen war der englische Musiker und Schauspieler David Bowie. Nachdem er mit einer Reihe von Musikprojekten keinen Erfolg hatte, schuf Bowie eine neue Glam-Rock-Persönlichkeit: Ziggy Stardust. Auf der Grundlage seiner Theatererfahrung und seiner persönlichen Beziehungen zu Schauspielern und Tänzern schuf Bowie mit Ziggy Stardust die ultimative Glam-Rock-Figur, die an eine Karikatur grenzt.
Ziggy entstand zwar weit nach Bolans Auftritt, allerdings dürfte Bolan eher andersherum von Bowie inspiriert worden sein, denn 1970 wurde Marc eingeladen, bei Bowies „The Prettiest Star“ Gitarre zu spielen. Das sollte die Nachfolgesingle von „Space Oddity“ werden und Bowie hatte den Song für seine Freundin Angela Barnett geschrieben. Das Paar heiratete dann auch bald. Für Bolan selbst war das nach eigener Aussage die allererste Nacht des Glam Rock.
Bowie hatte das damals langweilige und uninspirierte Gebaren der Musikindustrie ziemlich satt. Zur damaligen Zeit gab es nur noch die unendlichen Balladen der Prog Rocker und die zunehmend veralteten Stücke junger Singer-Songwriter, und nach einem Gespräch mit dem Fotografen Ray Stevenson über „Supermänner und Superstars“ beschloss Bowie, sich in sein Weltraumoutfit zu werfen.
Am 22. Februar 1970 gaben Bowie und seine neu gegründete Band Hype, bestehend aus Tony Visconti am Bass, Mick Ronson an der Gitarre und John Cambridge am Schlagzeug, ihr Live-Debüt im Londoner Roundhouse und trugen dabei Make-up, Satinumhänge, Silbergürtel, bunte Trikots und Lederstiefel.
Bei einem Publikum, das da noch größtenteils aus dem in Jeans gekleideten Hippie-Publikum aus Woodstock bestand, kam die futuristische Kleidung von Hype nicht unbedingt gut an. Allerdings war unter den Zuschauern eben auch Marc Bolan.

Später hat er geleugnet, dabei gewesen zu sein, aber es gibt ein Foto, das ihn zeigt. So viel dazu. Zu diesem Zeitpunkt sollte es noch zwei Jahre dauern, bis Bowie mit Ziggy Stardust eine neue extravagante Fassade zulegte. Zu diesem Zeitpunkt trug Marc Bolan dann bereits Federboas und Frauenschuhe. In der Zwischenzeit ließ sich David die Haare wachsen und plünderte die Garderobe seiner Frau. Wie auf den Covern von The Man Who Sold The World (1970) und Hunky Dory (1971) zu sehen ist.
Inwieweit Bolan von Hype’s Roundhouse-Auftritt inspiriert wurde, ist schwer zu sagen. Sicher ist, dass Marc Bolan bereits begonnen hatte, mit einem elektrischen Sound zu experimentieren, der an die großen Rock ’n‘ Roller seiner Jugend erinnerte. Dazu zählten Elvis, Buddy Holly und Little Richard.
Glam war also die erste echte Teenager-Attacke des neuen Jahrzehnts. In gewisser Hinsicht war es die Wiederauferstehung des ursprünglichen Geistes der fünfziger Jahre, als Rock & Roll nicht nur etwas war, das man sich anhörte, sondern auch anschaute: Little Richards Flamboyants, Jerry Lee Lewis‘ donnernde Showeinlagen. Um eine vergleichbare audiovisuelle Wirkung zu erzielen, mussten die Glam-Rocker zu dieser zeit natürlich viel weiter gehen. Sie verstärkten die androgynen und homoerotischen Strömungen, die bereits in der Popmusik der fünfziger und sechziger Jahre vorhanden waren, und kokettierten mit neuen Spielarten von abweichendem Verhalten und Dekadenz, indem sie das Publikum mit grellen, übertriebenen Kostümen und Inszenierungen in ehrfürchtiges Staunen versetzten.
Das alles war eine völlige Umkehrung des haarigen Heavy Rock, der seit 1967 ja ebenfalls immer mehr Fahrt aufnahm. Statt auffälliger Musik aber unauffälliger Kleidung überzog der Glam den eher nüchternen und bierseligen Rock mit exzessiven Bildern. Was den Glam davon abhielt, regressiv zu sein, also eine bloße Wiederbelebung oder Nachstellung der Vergangenheit, war die Art und Weise, wie sich der Sound durch die Fortschritte in den Studios in der zweiten Hälfte der 60er Jahre entwickelt hat, also die Art und Weise, wie man Gitarren klingen lassen konnte und Schlagzeug aufgenommen wird. Das alles hat sich in dieser Zeit wahnsinnig verändert
Es wäre lächerlich, alle Glam-Rock-Bands in den gleichen Topf zu werfen, aber das Ausmaß der Überschneidungen ist dann doch überraschend. Zwei der bekanntesten Songs dieser Ära sind beispielsweise Jean Genie von David Bowie und Blockbuster von The Sweet, die, obwohl sie aus ganz unterschiedlichen Bereichen des künstlerischen Spektrums stammen, beide eine Hook haben, der aus dem gleichen Gitarrenriff besteht (beide Bands haben immer wieder behauptet, dass die Ähnlichkeit ein Zufall sei, und die Version von „I’m A Man“ von The Yardbirds wurde als wahrscheinlicher Einfluss auf beide Songs genannt). Außerdem scheinen sich die beiden Songs, wie übrigens auch ein Großteil der frühen T. Rex-Stücke, stilistisch an Spirit In The Sky zu orientieren. Das war 1970 ein Überraschungshit für Norman Greenbaum, der ein One-Hit-Wonder geblieben ist. Und natürlich stand ein anderes One-Hit-Wonder für die unverschämte Bühnenpräsenz Pate. Gemeint ist The Crazy World of Arthur Brown mit „Fire“ von 1968, der ja ebenfalls ein Überraschungshit war.
Glam kehrte auch die politischen und philosophischen Grundsätze um, die dem Hippie-Rock der späten sechziger Jahre zugrunde lagen. In Abkehr vom kränkelnden Gemeinschaftsethos des Undergrounds waren die Glam-Interpreten nicht daran interessiert, sich zusammenzuschließen, um die Welt zu verändern, sondern strebten stattdessen nach einer persönlichen Flucht aus der Realität in eine nicht enden wollende Fantasie des Ruhms. Sie waren von einer halb ironischen, halb todernsten Besessenheit vom Ruhm und all dem damit verbundenen ostentativen Luxus getrieben. In Abkehr von der Frömmigkeit der langhaarigen Befreiungsgeneration feierte der Glam Illusion und Maske statt Wahrheit und Aufrichtigkeit. Die Glam-Idole vertraten die Auffassung, dass die Figur, die auf der Bühne oder auf der Schallplatte erschien, keine echte Person war, sondern eine konstruierte Persönlichkeit, die nicht unbedingt mit dem tatsächlichen Ich des Künstlers oder seinem Alltagsleben übereinstimmte.
Der wohl größte kommerzielle Moloch der Glam-Rock-Ära kam vom anderen Ende des Kunst- und Kabarettspektrums. Slade waren seit Mitte der 1960er Jahre bereits in verschiedenen Formen unterwegs und hatten sich als The ‚N Betweens einen kleinen Namen gemacht, bevor sie sich 1969 in Ambrose Slade umbenannten und kurz darauf in Slade. Nach einem missglückten Debütalbum ließen sie sich die Haare wachsen und änderten die Richtung erneut. Eine Coverversion von Little Richards „Get Down & Get With It“ schaffte es im Sommer 1971 in die Top 20, aber erst die Veröffentlichung von „Coz I Luv You“ später im Jahr katapultierte die Band zum ersten Mal auf Platz eins und leitete eine Serie von Single-Hits ein, die es seit den Beatles nicht mehr gegeben hatte. In den nächsten drei Jahren hatten Slade fünf weitere britische Nummer-eins-Singles, von denen drei auf dem ersten Platz der Charts landeten.
Die absichtliche Falschschreibung ihrer Songtitel war zum Beispiel ein Regelbruch, um sich bei jüngerem Publikum beliebt zu machen und Lehrer auf die Palme zu bringen.
Ihr Sound wird am ehesten Charakterisiert durch Noddy Holders einpeitschende Rufe, die hervorstechenden Riffs von Gitarrist Dave Hill, die schlurfenden Paradiddles – also eine Kombination aus Einzel- und Doppelschlägen – von Schlagzeuger Don Powell und eine Kakophonie von Handclaps – das alles passte natürlich zu Songs, die vielmehr in ein Fußballstadion passten als auf irgendeine andere Bühne.
Natürlich gab es noch viel mehr Künstler, die Tugenden und Werte anderer Szenen in den Glam einbrachten, aber es war im Grunde ein einziges Rollenspiel, bei dem es im Glam hauptsächlich ging. Hier war die Popmusik ein Katalysator für Selbstverwirklichung, ein gemeinschaftlicher Raum, in dem man buchstäblich alles sein konnte, was man sich überhaupt vorstellen konnte. Das funktionierte sowohl für die Künstler als auch für das Publikum, das sich in unterschiedlichem Maße von den starren Geschlechterrollen der britischen Nachkriegsgesellschaft befreien konnte. Glam wurde zu einer Bewegung, die durch die synergetische Beziehung zwischen Idolen und Anbetern definiert wurde, wobei jeder durch den anderen gestärkt und befähigt wurde, seine persönliche Weltflucht umzusetzen.
Host im Podcast "Work of Sirens"
Das freut mich natürlich. Ich selbst bin da immer etwas skeptisch mit meiner Auswahl. Um so besser, wenn ich weiß, dass sich das jemand anhört 🙂
…bis jetzt alles richtig gemacht und einen guten Riecher gehabt!
Ich hab‘ mal wieder viel zur Musikgeschichte gelernt. Ich finde diese Folgen, die ein Genre (oder eine Band, ein Album, …) im gesellschaftlichen Kontext der damaligen Zeit einordnen und beleuchten höchst spannend. Ich profitiere beim bewussten Hören definitiv von einem möglichst breiten Wissen über Musikstile, deren Ursprünge und Einflüsse und freue mich jedesmal, wenn Du zur Mehrung meines Wissens beiträgst… Danke!
Kann ich nur zustimmen. Glam Rock liegt mir musikalisch eher fern, umso mehr habe ich durch diese tolle Folge gelernt.