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Genre-Guide: AOR

Hallo und willkommen zu einer weiteren Ausgabe in unserem Genre-Guide. Ich wurde in den letzten Wochen oft gebeten, etwas über dieses Thema zu sagen und das Ergebnis hört ihr also heute. Wir räumen mit ein paar Mythe auf, die sich um die drei Buchstaben AOR drehen und um die Verwirrung die damit einher geht, weil viele Musikliebhaber davon ausgehen, das bedeute Aduld Oriented Rock, also eigentlich „Erwachsenenrock“, was im Grunde eine völlig abwegige Bezeichnung ist, die es aber tatsächlich gibt. Aber dieses AOR hat erst einmal nichts mit dem wirklichen AOR zu tun, dem Album Oriented Rock nämlich. Über diesen wollen wir heute sprechen und dann natürlich auch, wie es dazu kam, dass ein tatsächlich nachvollziehbarer Begriff plötzlich in ein Scheingenre verwandelt wurde.

Albumorientierter Rock war ein Phänomen, das in den 70er Jahren zum ersten Mal auftauchte, aber erst in den 80ern zu einem weltweiten Trend wurde.

Ursprünglich wurde der Begriff verwendet, um die Werke von ganz unterschiedlichen Bands wie Pink Floyd, YES, King Crimson und den Beatles schon in den späten 60er Jahren zu beschreiben, weil die Alben dieser Bands als Gesamtkunstwerk betrachtet werden sollten und auch am Stück gehört werden sollten. Zu dieser Zeit ging es immer weniger um einzelne Songs wie noch in den 50ern und der ersten Hälfte der 60er. Die Künstler emanzipierten sich von dieser rein kommerziellen Sichtweise, wobei die Beatles natürlich wieder einmal Vorreiter waren. Das Prinzip war einfach: Jeder Song des Albums war mit dem folgenden verbunden, entweder thematisch oder musikalisch. Um die Platte optimal erleben zu können, muss man sie also von Anfang bis Ende hören.

Es ist interessant, dass wir in einer Zeit leben, in der wir scheinbar wieder in die Steinzeit des Musikhörens zurückfallen, woran natürlich einerseits die Streamingdienste schuld sind, aber die reagieren ja auch nur auf die kaum vorhandenen geistigen Kapazitäten ihrer Hörer. Aber wir reden hier zwar hauptsächlich vom Mainstream, der sich ja immer nur auf einzelne Songs gestürzt hat, diese Unart ist aber längst schon weiter fortgeschritten als man das vielleicht denken könnte. Die Playlist ersetzt sozusagen erstmal das Radioprogramm, auf das man keinen Einfluss hat, und dann auch noch das Album als Kunstwerk selbst. Das hat natürlich damit zu tun, dass Musik schon lange keine gesellschaftliche Relevanz mehr besitzt und im Grunde nur noch die äußere Leere an die innere Leere anpasst wird – und während innen auch weiterhin nichts los ist, zumindest von außen irgendeine Geräuschkulisse zugeschaltet wird.

Wahrscheinlich spreche ich jetzt zum falschen Publikum, aber bevor jetzt alle empört abschalten. Das ist der Deal. Das ist das, was heute, hier und jetzt um uns herum geschieht. Demgegenüber stehen natürlich Tausende von Musikliebhabern, die Tonträger kaufen, sich mit dem Artwork, der Musik und den Lyrics beschäftigen und auch noch das Merch einer Band kaufen, um sie zu unterstützen. Und glaubt mir, selbst Bands, die man vielleicht als Groß wahrnimmt und von denen man denkt, dass sie es gar nicht mehr nötig hätten, ist auf jeden Pfennig aus diesen Verkäufen angewiesen oder dass ihr zu den Konzerten geht.

Zurück zum Album Oriented Rock.

Viele glauben, das Beste Beispiel für AOR sei das Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ von den Beatles, weil es kaum einen Sinn macht, sich davon nur ein oder zwei Song anzuhören.

Das Gleiche gilt für „The Dark Side of the Moon“. Natürlich haben die Songs individuelle Stärken und Merkmale, aber letztlich sollte das Album als eine Einheit betrachtet werden. Progressive Rockbands folgten in den 70er Jahren im Allgemeinen dem Konzept des AOR. Ihr sehr also hier die Nähe zu dem, was man gerne Konzeptalbum nennt, aber das ist nochmal eine ganz andere Geschichte.

Die genannten Band wurden in der Regel bei bestimmten Radiosendern gespielt und mit Radio hat AOR eben viel zu tun, und hier ganz speziell die Album Oriented Radiostations – erneut ein AOR mit einer anderen Bedeutung, hier fehlt das Rock am Ende.

Auf jeden Fall spielten diese Stationen alle möglichen Songs eines Albums unabhängig von ihrer Länge, während herkömmliche Radioprogramme eine 3 Minuten Marke einhalten

Bevor Bands wie die Beatles das Albumformat mit Alben wie „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ als eigene Kunstform etablierten, waren es die frühen UKW-Radios und ihre DJs, die den Begriff zur Beschreibung ihres Programmkonzepts verwendeten – es ging darum, sich auf Albumtitel oder ganze Alben zu konzentrieren, anstatt nur eine Hit-Single zwei bis drei Minuten lang zu spielen. Und es war natürlich dazu gedacht, den Verkauf von Alben zu fördern, quasi als ein Gegenpol zum Top 40-Format, das auf den Verkauf von Singles spezialisiert war. Vielleicht kennt ihr heute nur noch den Begriff der Billboard Charts, aber seit Anfang der 50er Jahre hatte der Radiosender KOWH in Omaha, Nebraska dieses beliebte 40er Format in Amerika etabliert, das dann in den 80ern wieder an Bedeutung verlor. Die Album-Charts – wir sprechen hier ja über Alben – gab Billboard bereits seit 1961 heraus und es dürfte klar sein, dass durch die AOR-Radios, von denen es in Nordamerika einige gab, die Albenverkäufe noch einmal extrem anstiegen, weil es eben für die gespielten Songs keine Singles gab.

Das ist im Grunde also die Wiege des Begriffs AOR, aber Ende der 70er Jahre änderte sich etwas Entscheidendes. Bis dahin ging es nämlich gar nicht darum, wie sich die Musik anhört, die eine Band spielte, AOR war eher eine Haltung vieler Radiostationen.

Das änderte sich Ende der 70er Jahre, da wurde der Begriff AOR plötzlich mit populären amerikanischen Rockbands wie den Eagles und Boston in Verbindung gebracht. Klar waren das Bands, die auch weiterhin dem Albumformat zugetan waren, aber langsam kristallisierte sich hier tatsächlich eine neue Musikrichtung heraus, die melodiöser und harmloser war als der restliche Rock N Roll Zirkus zu dieser Zeit. Mehr Pop-Orientiert und im wahrsten Sinne des Wortes Radiotauglich – und damit ist jetzt das Mainstream-Radio gemeint. Die Hörer konnten diese Musik leicht im Hintergrund laufen lassen und verstanden, was sie da hörten – im Gegensatz zum gerade abklingenden Progressive Rock. Und weil diese Musik extrem zugänglich war, wurde die Musik von Bands wie Boston oder Kansas dann auch oft im herkömmlichen Radio gespielt, was deren Karrieren einen ordentlichen Schub verlieh.

Und hier sind wir jetzt bei diesem merkwürdigen Aduld Oriented Rock angekommen, sozusagen der dritten Stufe im AOR-Verlauf.

Diese Bands und ihre Musik werden heute als Adult Oriented Rock bezeichnet, was sich vom Album Oriented Rock natürlich unterscheidet. Album Oriented Rock war also schließlich eine radiozentrierte Idee, eine Programmrichtung sozusagen; der Adult Oriented Rock bezieht sich auf Bands wie Boston und Asia, deren Sound, wie gesagt, freundlicher, vielschichtiger und synthesizergesteuert – kurz: gefällig ins Ohr ging.

Es ist wie so oft die Musikindustrie, die dem Kind einen Namen gibt, aber er kam eben nicht aus dem Nichts, sondern baute auf ein bereits bestehendes Kürzel auf, was die Sache natürlich leichter machte. Plötzlich fasste man alle immens populären, harmlosen, melodischen Rockbands zusammen, weil sie eben oft im Radio gespielt wurden. Es war gerade so, als schrieben sie ihre Songs geradezu fürs Radio. In den 80er Jahren wurden Bands wie Journey, Toto, Bon Jovi, Foreigner, Survivor und viele andere zum Synonym für AOR; alles, was letztlich Mainstream-Appeal hatte, aber doch noch Rock war.

Einige Alben, die wir erwähnen müssen, sind „Escape“ von Journey, „Asia“ von Asia, „4“ von Toto, „Leftoverture“ von Kansas, „Agent Provocateur“ von Foreigner, „Vital Signs“ von Survivor, „Hi Infidelity“ von REO Speedwagon und viele andere ähnliche Blockbuster. Dieses Phänomen war übrigens in allen Genres und Musikrichtungen zu beobachten, nicht nur im Rock. In den späten 80er Jahren setzte sich dieser Trend mit Hair-Metal-Bands wie Europe, Cinderella, Poison, Slaughter, Bad English, Giant, Winger, Firehouse, White Lion und anderen fort. Es war die Zeit des Popcornkinos fürs Ohr.

AOR war also nie eine stilistische Gruppierung; die Aufnahme in die Playlist wurde immer durch Entscheidungen der Radiomacher bestimmt. Die Künstler, die in den AOR-Listen vertreten waren, repräsentierten ein breites Spektrum an Musikrichtungen. Dennoch haben Branchenbeobachter einige allgemeine Merkmale festgestellt, die man zunächst Hard Pop nannte. „Hart, weil der Sound die Konturen von Hard Rock und Heavy Metal ebgeleitet war, Pop, weil die formale Struktur sich an Popmelodien orientiert, das heißt, hier geht es nicht um ein ausuferndes und riffbasiertes Wechselspiel wie im traditionellen Heavy Metal. Ein heutiges Beispiel wäre da Ghost, die ganz ähnlich vorgehen. Die Unterhaltung steht hier ganz klar im Vordergrund, das bedeutet, das Entertainment ist in der Basis wichtiger als die Musik selbst.

Dass sich der Begriff des Aduld Oriented Rock in den 80ern durchgesetzt hat, das lag vor allem an den Konkurrenzformaten, die immer mehr Einzug in den Mainstream hielten, wie etwa Disco, Country Pop, Rock ’n‘ Roll Oldies, und College Radio – das dann später Alternative genannt wurde – beeinträchtigte seine Vorreiterrolle erheblich. Die Attraktivität des AOR wurde auch durch den Niedergang von großen Stadionrockbands der 70er – Doobie Brothers, Led Zeppelin usw. beeinträchtig.

Warum sich der Begriff Aduld Oriented Rock so hartnäckig hält – vor allem in Deutschland – obwohl die hier zu findende Musik in Wirklichkeit Soft Rock oder Melodic Rock meint, ist eben genau mit dieser ganzen Begriffsverwirrung zu erklären, denn auch Aduld Contemporary war mal ein Begriff für die aus dem Album Oriented Rock entstandene Mainstreammusik.

Es waren wieder die Radiostationen in Amerika, die Anfang der 80er einen neuen Begriff generierten: Classic Rock. Dieser Begriff sollte den Album Oriented Rock, den es im Radio jetzt nicht mehr gab ersetzen und gegen den immer mehr so genannten Aduld Oriented Rock abgegrenzt werden. Betrachtet man Classic Rock näher – der auch kein eigentliches Genre bezeichnet, dann meint das die Ära von 1965 bis etwa 1995. Alles was vorher oder danach war, zählt nicht mehr zum Classic Rock, weshalb auch keine Band von heute Classic Rock spielen kann, ob sie sich so anhören oder nicht.

(weiteres im Podcast)

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Host im Podcast "Work of Sirens"

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